Der Prozess der Aufarbeitung beginnt mit der Wahrnehmung der unterschiedlichen Perspektiven und Bedürfnisse der Beteiligten. Maßgeblich sind der Schutz und die autonome Entscheidung der Betroffenen bzw. ihrer Vertreter*innen (z.B. bei Minderjährigen oder Menschen mit rechtlicher Betreuung), sich an diesem Prozess zu beteiligen. Betroffene müssen über die Möglichkeit von Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen informiert werden (s. Grundsätze der Landeskirche im Anhang, dort unter „Hilfe“ und „Aufarbeitung“). Ihnen und weiteren Beteiligten muss eine angemessene Begleitung in Form von Beratung, Supervision oder Seelsorge zur Verfügung gestellt werden. Folgende Perspektiven sind im Rahmen eines Aufarbeitungsprozesses zu bedenken und je nach Fall zu berücksichtigen:
- Die Sicht der betroffenen Person
- Die Sicht des Umfelds der betroffenen Person (Familie, Peergroup, Partner*in u.a.)
- Die Sicht des/der Beschuldigten oder Täters/Täterin
- Die Sicht von Personen aus dem Umfeld von Beschuldigtem/r oder Täter/in
- Die Sicht möglicher weiterer Zeug*innen, die ebenfalls betroffen sein könnten oder den Fall beobachtet und/oder anders eingeschätzt haben (Gruppenteilnehmende, Kolleg*innen)
- Die Sicht des Teams / Kollegiums / Gremiums, das mit dem Vorfall konfrontiert ist und dem sich die Frage nach der (Mit-)Verantwortung stellt
- Die Sicht nicht unmittelbar Beteiligter, die auf klare Kommunikation der Fakten angewiesen sind (Landeskirche, Gemeinde, Presse, Öffentlichkeit…)
Die Komplexität des Geschehens und die zu erwartende Dynamik im Verlauf des Aufarbeitungsprozesses erfordern eine unabhängige, externe und multiprofessionelle Besetzung des verantwortlichen Aufarbeitungsteams. Die Zusammenarbeit und Abstimmung mit Betroffenen (oder ihren Vertreter*innen) ist unverzichtbar.
Können oder möchten Betroffene nicht persönlich beteiligt werden, sollten sie zumindest ein Mitsprache-recht bei der Zusammensetzung des Aufarbeitungsteams bekommen. Zu einem solchen Team sollten Menschen mit Qualifikationen bzw. Kompetenzen in folgenden Bereichen gehören:
- Arbeits-/Dienst-/Strafrecht
- Psychologie oder Psychotherapie
- Traumafachberatung / Traumapädagogik
- Sozialpädagogik
- Organisationsentwicklung
- Öffentlichkeitsarbeit
Die Fachstelle sexualisierte Gewalt mit den zuständigen Referent*innen für Aufarbeitung und Betroffenenbegleitung ist in diesen Prozess unbedingt mit einzubeziehen. Der Aufarbeitungsprozess sollte im Team vereinbart und vorab in Einzelschritten skizziert, terminiert und mit einem Fallmanagement versehen werden. Kann ein gemeinsames Interesse oder Ziel benannt werden? Was sollte am Ende des Prozesses erreicht sein? Hierfür braucht es eine professionelle, unabhängige Moderation. Auch bei diesen Schritten sollten die Bedürfnisse, Erfahrungen und Anregungen der betroffenen Person(en) einbezogen werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Verantwortung oder der Auftrag zur Aufarbeitung nicht abhängig von den Betroffenen selbst ist.
Gleichzeitig ist auch dafür zu sorgen, dass Einsichten und Ergebnisse aus der Aufarbeitung auch in die Erarbeitung und Fortschreibung des Schutzkonzeptes der Kirchengemeinde oder Einrichtung berücksichtigt und aufgenommen werden. Für die Weiterentwicklung des Schutzkonzeptes soll deswegen durch das jeweilige Krisenteam einer Gemeinde bzw. Einrichtung in den Bereichen „Beschwerdeweg / Bekanntwerden der Anhaltspunkte“, „Arbeit des Krisenteams“, „Umgang mit betroffenen/beteiligten Personen“ sowie „Gesamte Auswertung: was lernen wir aus diesem Fall“ im Anschluss an eine Intervention bzw. Aufarbeitung eine gründliche Reflexion und Überprüfung des gesamten Ablaufs stattfinden.
Eine sorgfältige Nachbetrachtung des Vorfalls kann dazu beitragen, das Vertrauen in die Einrichtung / Gemeinde und ihre Mitarbeitenden wiederherzustellen sowie den Betroffenen dabei helfen, gestärkt aus der Situation hervorzugehen.